Inga Häusermann

Inga Häusermann

Künstlerische Tätigkeit

Das nicht klar Zuortbare

Seit den Anfängen arbeite ich hauptsächlich auf Papier. 1999 bin ich auf Teer gestossen, der seither, auf der Hinterseite des Papiers aufgetragen, für meine künstlerische Arbeit zentral geworden ist. Nach 2014 kamen sowohl Skulpturen wie auch Texte hinzu, seit 2022 auch Experimente mit Musik, Geräuschen und Klängen.
Im Skulpturalen komme ich immer wieder auf tierische Figuren zurück, die für mich, wie die Architektur oder das Pflanzliche, stets dem Kreatürlichen untergeordnet sind.
Die Faszination dem nicht klar Zuortbaren gegenüber begleitet mich schon länger, so etwa Tiere, die etwas Menschliches an sich haben, Architektur, von der man nicht klar sagen kann, ob sie eher von sakraler oder industrieller Natur ist, real oder doch eher einem Traumbild entschwunden. Oder Pflanzen, die menschlich, Steine, die zu Menschenkolonnen werden oder Kinder, die schon die Schwere des Alters mit sich tragen.
Was macht ein Tier zum Tier, einen Menschen zum Menschen, und wo verliert die Zuortung jegliche Bedeutung.
Immer schwebt in meinen Arbeiten auch die Relativität des Zeitlichen, des Vergänglichen mit.

Ausbalancierte Dissonanz

Ich verstehe mich als Forscherin.
Ich gehe den kleinen Dissonanzen auf die Spur, die das gewohnte Gleichgewicht und Selbstverständnis des Alltags in Bewegung versetzen. Dabei suche ich keine Lösungen oder Erklärungen. Es handelt sich eher um ein Eintauchen in jenen Zustand der Unstimmigkeit, der dann während der Arbeit schwindet, sich begrifflos klärt, als würde im Dunkeln etwas ertastet, das sich allmählich erschliesst.
So ist mein Schaffen ein fortdauerndes Vertrautmachen mit dem Irritierenden, Unfassbaren, sich Entziehenden.

Ausgangspunkt

Wichtige Basis meines künstlerischen Schaffens ist die Musik. Ich wurde früh gefördert und habe die Welt durch ihre Klangfarben verstehen gelernt. Ich war fasziniert von Aufgabenstellungen meiner Lehrer, die mich Gedichte erfinden und diese Vertonen liessen, die mich lehrten, dass Bach zwar seine Sprache hat, die aber erst mit der eigenen Sprache des Interpreten wirklich zum Leben erweckt werden kann.
Wo beginnt das Leben in der Musik? Wo beginnt ein Ton und wo hört er wieder auf, oder geht er weg und kommt wieder zurück? Fragen, die mich mehr interessierten als Vokabeln und Formeln.
Als mir später Zeichenstift und Papier wichtigstes Ausdrucksmittel wurden, war mir manches schon vertraut. Es handelte sich einfach um eine andere Form jener unerschöpflich zu erforschenden Welt von Klangfarben und Linien, von Frequenzen und Räumen. Es bedeutete ein Übersetzen in eine andere künstlerische Sprache, eine andere Form, nicht aber eine andere Welt.

Inga Häusermann

Auf Ingas Pfaden

zu Inga Häusermanns Arbeiten hinter Papier

Von einer Frau geträumt, die hatte drei Augen.
Zwei sahen mich an. Mit dem dritten war sie woanders.*

Eine schwarzweiss gefleckte Katze streift im Halbdunkel auf leisen Pfoten durch einen verwahrlosten Hinterhof. Bruchstücke herabgefallener Dachziegel liegen auf dem Erdboden, verwitterte Mauerreste, Teile eines vom Rost zerfressenen Leitungsrohres, abgeblätterter Mauerputz, vom Wind in eine Ecke getragenene Zeitungsfetzen, ein liegengebliebenes Stück Holz. Mit Marmorpapier beklebt. Im Halbdunkel des Hintergrundes ein offener Treppenaufgang, eine scheinbar unbenutzte Stiege zu einem unbewohnten Haus. Ein vergessener Flur. Eine unverschlossene Türe zu einer verlassenen Küche. Ein umgefallener Stuhl, ein noch halbgedeckter Tisch, zwei leere Gläser, ein Löffel, eine Gabel. Ein zugewachsener Hinterhof in einer unbekannten Stadt. Die Bilder einer verschwundenen Strasse. Das Lärmen der Kinder im Hof. Der Essensgeruch an Sommertagen aus offenen Küchenfenstern. Ein Streit, der nach aussen dringt. Lautes Lachen. Tanzmusik aus einem Radio.

Wann mag sie unterwegs gewesen sein, die Katze auf ihren heimlichen Streifzügen? Was hat sie wohl gelockt und was endeckt auf ihren unwegsamen Pfaden? Ertastend, erkundend. Wer mag es gemacht haben, dieses Foto einer streunenden, schwarzweiss gefleckten Katze? Ein einzelner, verblichener Abzug auf dünnem Papier. Zwischen verklungenen Tanzpolonnaisen, vergangenen Kindergeburtstagen, längst vergessenen Erstkommunionen, silbernen Hochzeiten. Auf einem Flohmarkt in alten, vom Regen spröde gewordenen, geflochtenen Wäschekörben.

Verwaiste Trohne, Hochsitzen ähnlich. Himmelsleitern gleich. Kirchenportale über mächtigen Freitreppen schwebend ohne Menschen davor und Kathedralskuppeln, auf dem Kopf stehend wie leere Gefässe. Die Erinnerung an ein gläsernes Haus auf Spinnenbeinen. Vom Herbst entlaubte Hände, die wie Baumkronen in die Höhe wachsen. Mondgesichter, die sich in durchscheinende Totenmasken Verstorbener verwandeln. Gespenstische Szenen von geisterhaft erscheinenden Kindern, die uns wortlos anschauen. Entrückte Frauengestalten in langen Gewändern mit an Äbtissinenhauben erinnernden Frisuren. Ein Kind in einem sommerroten Kleid, mit Stroh zugedeckt in einem Stall von verwunschenen Wesen. Menschen in Tiergestalt. Bäume in Menschengestalt, nach dem Himmel greifend. Winzige Figuren, auf einem Tisch treibend wie Schiffbrüchige, die zu uns herüberwinken. Das Porträt einer jungen Frau mit lauter feinen, versteckten Antlitzen im Haar. Und immer wieder Gesichter, die aus Gesichtern wachsen. Wie Pupillen in einer Iris. Das Mädchen mit den drei Augen. Askaban. Auf den Zeichentischen Einmachgläser mit Teerfarbe und Pigmenten. Zwischen aufgeschlagenen Büchern und alten Zeitschriften. Verworfene und noch versprochene Blätter an den von den Jahren schiefgewordenen, holzverkleideten Wänden. Ein fliederfarbenes Sofa. Der Blick in einen Garten. Ein hellblauer Stuhl.

Erahnte Bilder aus einer Welt hinter dem für uns Sichtbaren. Stille Aufzeichnungen von Begegnungen jenseits des Fassbaren. Reiseberichte aus rätselhaften Tiefen. Hinterpapierzeichnungen, die schattenhaft zu uns auftauchen. Zart festgehaltene Momente, scheinbar schwerelos und zeitlos zwischen Vergangenem und Zukünftigem verharrend. Inga nimmt uns mit auf ihre nächtlichen Streifzüge. Auf wundersame Wanderschaften in eine zerbrechliche und verloren geglaubte Welt.

Christian Denzler

* aus Rudolf Bussmann: Das 25-Stundenbuch, Waldgut Verlag 2006, Frauenfeld